Heute Nachmittag waren Sichtfeldchen und ich in der Stadt unterwegs, um ein paar Besorgungen zu machen. Um bei diesen arktischen Temperaturen ein wenig aufzutauen, setzen wir uns in einer Passage auf eine Rundbank und machten ein kleines Picknick. Ich war gerade mit einer anderen Mutter im Gespräch, als ich merkte, dass sich auf der anderen Seite auch jemand neben mich setzen wollte. Eher unbewusst nahm ich meine neben mir stehende Tasche weg, um dem Anderen etwas mehr Platz zu machen. Er bedankte und setzte sich, und ich stellte eher nebenbei fest, dass es ein älterer Herr in einem grünen Lodenmantel war, der an einer Krücke ging. Er saß still da, und ich merkte aus den Augenwinkeln, wie er Augenkontakt zu meiner Tochter aufnahm. Kurz darauf sprach er mich sehr freundlich an und fragte, wie alt denn meine Tochter sei. So kamen wir ins Gespräch.
Zunächst dachte ich, dass sei eben einer dieser älteren Menschen, die das Gespräch mit wildfremden Menschen suchen, weil sie sonst niemanden zum Reden haben. Hm, vermutlich war das sogar der Fall, aber irgendwie war es trotzdem anders. Ich weiß gar nicht recht, wie ich es beschreiben soll. Es war weder unangenehm noch aufdringlich noch irgendwie peinlich. Wir saßen da und unterhielten uns über alles Mögliche. Er erzählte aus seiner Kindheit und davon, dass seine Mutter für ihn und seine Geschwister jeweils bis zum zehnten Lebensjahr ein Tagebuch geführt hatte und dass er als einziger dieses Tagebuch anschließend weitergeführt hatte, weil er es so schön fand. Auf meine indiskrete Frage hin sagte er mir, dass er im Jahre 1930 geboren worden war. Er erzählte von seinem ältesten Bruder, der in Russland im Krieg gefallen war, und dass das im Nachherein vielleicht sogar besser gewesen sei, als in Kriegsgefangenschaft elend zu Grunde zu gehen – nur habe man 1941 noch nicht gedacht, dass diesem Todesfall irgendetwas Positives abzugewinnen gewesen sei. Er erzählte, dass er aus dem heute nicht mehr zu Deutschland gehörenden Osten des Deutschen Reiches stammte, nun aber schon seit 59 Jahren am Rhein lebte. Er erzählte vom Schicksal derer, die damals nicht bereit gewesen waren, ihre Heimat im Osten zu verlassen. Er selber war Physiker und hatte jahrelang an einer namhaften Eliteuni in den USA doziert. Während er mit leuchtenden Augen von diesem Abschnitt seines Lebens erzählte, verfiel er immer wieder für einige Sätze in ein sehr amerikanisches Englisch, so sehr lebte er in dem, worüber er erzählte… Er strahlte dabei so eine Ruhe und Weisheit aus, so eine Weitsicht und Erfahrung, wie sie vielleicht nur das Alter mit sich bringen kann.
Es war wirklich unglaublich – wir saßen da etwa eine halbe Stunde und unterhielten uns, und zum Glück war auch Sichtfeldchen in ihrem Buggy so geduldig, mir diese Unterhaltung zuzugestehen. Doch irgendwann wurde sie unruhig, und ich musste mich schweren Herzens verabschieden. Zum Abschied wünschte er uns alles Gute, und ich sagte ihm von ganzem Herzen, wie schön ich es fand, ihm begegnet zu sein. Noch jetzt bin ich ganz erfüllt von dieser Begegnung.
Es ist merkwürdig – ich weiß nicht einmal genau, woran es gelegen hat, dass dieser Mensch mich so berührt hat. So etwas ist mir noch nicht oft passiert, und ich kann es mir nicht erklären. Doch irgendwie fühlte ich mich nach dieser Unterhaltung so viel besser als vorher, so leicht, so warm im Herzen. Ich kann das gar nicht anders beschreiben, und ich hatte mich vorher nicht schlecht gefühlt oder so – diese Begegnung hat mir einfach gut getan…
Ich bin dann mit Sichtfeldchen in eine Drogerie gegangen und musste anschließend auf dem Weg zum Parkhaus noch einmal an der Bank vorbei, und irgendwie hoffte ein Teil von mir, er würde noch da sitzen. Die Bank wirkte merkwürdig leer ohne ihn. Ich werde nun immer an ihn erinnert sein, wenn ich an dieser Bank vorbeikomme, und ich werde lächeln müssen, so wie ich es jetzt tue, während ich diese Begebenheit niederschreibe. Ich frage mich, wer er wohl war, wie er lebt, was er wohl gerade tut. Und ich frage mich, was da eigentlich mit mir passiert ist. Und ich freue mich darüber und bin dankbar für diese halbe Stunde heute Nachmittag, diese kleine, unscheinbare halbe Stunde, die plötzlich eine so starke Bedeutung bekommen hat…
Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein, die Engel. Vielleicht sind es auch alte Herren im grünen Lodenmantel…